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Carne

Carne

Ein Film von Gaspar Noé

Gaspar Noé’s Kurzfilm beginnt bereits mit einem krassen Tabubruch. Ein Pferd wird vor laufender Kamera geschlachtet – real und in jeder Einzelheit.
Die nicht nachgestellten Details, die Noé hier filmt von der Tötung, über Häutung und Zerhacken, bis es schließlich als Endprodukt auf den Teller kommt, ist erbarmungslos, brutal und wirkt wie ein Schlag ins Gesicht.
Doch diese akribische (in den Augen von Noé’s Gegnern „pornografische“) Gewaltdokumentation dient nicht dem Selbstzweck oder zur billigen Schockwirkung auf das Publikum, sondern führt vielmehr metaphorisch die Entmystifizierung der allgemeinen Vorstellung der Fleischzubereitung, die jedesmal mit der nicht wieder rückgängig zu machenden Auslöschung der Existenz eines Tieres verbunden ist, an. Ein paar Szenen darauf zeigt Noé die gynäkologisch akkurate Frontalgeburt eines Säuglings, welches sich daraufhin als die Filmtochter des Protagonisten heraus stellt.
So sehr manche Stimmen Gaspar Noé schon nach diesen anfänglichen Bildern Sensationsgier und Exploitation vorwerfen möchten, so lassen sich diese Vorwürfe gänzlich relativieren. Denn auf Grund der Wahl des ungeschönten, den Film konsequent durchziehenden Realismus als Stilmittel und das entwaffnende Gesellschaftsportrait als Hauptmotiv rechtfertigen sich die gezeigten Bilder selbst. Eine andere, gerechtfertigtere Frage wäre vielmehr, warum sich jemand eine derartige Vorstellung freiwillig antun möchte.
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Lange muss man nach der Antwort auf diese Frage nicht warten, denn Noé beginnt hier chronologisch von Anfang an, stellt eine komplizierte Vater-Tochter-Beziehung zu einem der Hauptthematiken und ergänzt mit seinem 40-minütigen Kurzfilm die fehlenden Lücken bezüglich der Motive und die schrittweise Formung des misanthropischen Weltbilds des Pferdeschlachters, das sich im “Menschenfeind“ bereits zu gefährlicher Vollendung ausgebildet hat.

Am 23. März 1956 lernt der tragische Held des Films, wieder einmal beeindruckend gespielt von Philippe Nahon, eine junge Fabrikarbeiterin kennen und verführt sie in einem billigen Hotelzimmer gleich gegenüber ihrer Abreitsstätte. Die Folge dieses kurzen Tete-a-tete ist eine ungewollte Schwangerschaft, die zu der akribisch genau dokumentierten Geburt des als Cynthia getauften Mädchens führt. In schnellen zeitlichen Sprüngen entfaltet sich der weitere Verlauf der Tragödie. Die Frau verlässt Mann und Kind und rechtfertigt ihr Verhalten in ein einer kurzen Mitteilung damit, dass sie das Mädchen nie wollte. Noé suggeriert in den folgenden lakonischen Bildern, dass dies wohl mit der geistigen Krankheit des Kindes zu tun hat. Es ist autistisch.
Der Pferdemetzger ist allein gelassen mit dem pflegebedürftigen Kind und zieht es trotz seiner pädagogischen Inkompetenz nach bestem (Un-)Wissen und Gewissen auf. Der Alltag der beiden ist gezeichnet von Monotonie, Armut und Tristheit. Das mittlerweile 14-jährige Mädchen (Blandine Lenoir) ist stumm, apathisch und verbringt die meiste Zeit vor dem Fernseher.
Ihr Vater hat mit seinem Metzgerladen alle Hände voll zu tun – schließlich auch die einzige Grundlage ihrer Existenz (denn wie man später in "Menschenfeind" erfährt, ist sein eigener Vater in einem Konzentrationscamp im II Weltkrieg verstorben, die Mutter daraufhin ausgerissen und damit sind für den Schlachter sämtliche Quellen der Liebe und Unterstützung versiegt).
Laden und Stammkunden brauchen permanente Zuwendung, die Ernährung fällt ziemlich einseitig aus (außer Pferdefleisch bekommen Vater und Tochter nichts anderes auf den Abendbrotteller, sogar auf Beilage wird verzichtet) und von dem sowieso wenigen Geld muss eine Amme für die Tochter bezahlt werden.
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Selbst für eine kleinbürgerliche Familie sind die Verhältnisse hier mehr als bedürftig und der Frustrationsgrad umso höher. Die einzige Ablenkung durch das abendliche Fernsehprogramm bietet nur einen penetrant-dogmatischen TV-Prediger und gewaltverherrlichende Comic-Adaption, in welchem ein als "Carne" ausgewiesener Maskierter sich mit Schurken anlegt, diese, begleitet von plakativen, lächerlichen One-Linern umbringt und sich sogar mit dem Teufel anlegt.
"Carne" steht metaphorisch also sowohl für das tierische und menschliche Fleisch (letzteres insbesondere als Verweis auf die pädophilen Verlockungen des Hauptdarstellers), um das sich die Welt des Schlachters dreht, als auch für die Gewaltbereitschaft des Antihelden im Fernseher, der für den überforderten Vater immer mehr zum Vorbild im Umgang mit seinen Mitmenschen wird.
Schließlich kommt es zu dem tragischen Missverständnis: Cynthia hat ihre erste Regel, läuft in ihrer Angst direkt zum väterlichen Metzgerladen, wird unterwegs von einem Bauarbeiter belästigt (wobei eine Vergewaltigung verhindert werden kann) und gelangt auf Umwegen dann doch zu ihrem Beschützer. Dieser hat gerade wie jeden Tag ein Pferd in Stücke geschnitten und das Messer bereits gezückt, so dass die falsche Schlussfolgerung unmittelbar zu einem brutalen Meuchelmord führt. Zynischerweise erwischt es auch noch einen falschen Bauarbeiter.
Damit ist das bereits unrosige Schicksal des Schlachters endgültig besiegelt – er wird verhaftet und eingesperrt, verliert Tochter und die Metzgerei, und damit das Bisschen, das er noch hatte. Im Gefängnis macht er Erfahrungen mit der Einsamkeit, der Abwertung und der Homosexualität von Seiten der Mitinhaftierten. Als er heraus gelassen wird, fühlt er sich in seinem früheren Umfeld fremd und verhöhnt, lernt eine füllige Barbesitzerin (Frankie Pain) kennen und wird zu ihrem Liebhaber – ein Leben in gänzlicher (sexueller) Instrumentalität, Abhängigkeit und emotionaler Armut.
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Gaspar Noé zeichnet mit Hilfe des brillanten method-actings Philippe Nahons ein sehr pessimistisches Menschenportrait vor einer auseinander fallenden, von Vorurteilen überladenen Kleinbürgerschaft. Die 70er Jahre – die Zeit der Handlung von "Carne" – zeigen bereits den allmählichen sozialen und emotionalen Verfall, der sich in der nächsten Dekade, die Noé in seinem 8 Jahre später verwirklichten Sequel beleuchtet, durch die einbrechende Armut und Existenzbedrohung auf einen bedrohlichen Siedepunkt zuläuft.
Philippe Nahon ist dabei das plakative Spiegelbild seiner Umwelt und die pure Personifizierung von Fremden- und Schwulenfeindlichkeit, Egomanie, Introvertierung und Ausleben niederer Triebe.
Noé zeigt schrittweise das Herabgleiten in die Hab- und Sinnlosigkeit eines Versagers und dessen Hinwendung zu Vorurteilen, Homophobie und Hass gegenüber seine Mitmenschen.
Auch stilistisch greift "Carne" denselben radikalen Ton und innovative Kameratricks seinem Nachfolger vorweg (markante musikalische Untermalung, lange Einstellungen, Großaufnahmen von Nahons Bände sprechendem Gesicht, entfesselte, expressionistische Kamera und ironisch-plakative Schrifttafeln), ist in der Inszenierung von ebenfalls schwer verdaulichem bitterem Realismus und Zynismus geprägt, kann jedoch atmosphärisch und dramaturgisch nicht so überzeugen wie das Sequel.

Insgesamt ist aber "Carne" dennoch ein eigenwilliges, besonderes Glanzstück mit individueller Note geworden, das die Gesamtlänge von 40 Minuten gekonnt ausschöpft und die Emotionen des Zuschauers souverän manipuliert. Ein perfekter Einstieg für den nachfolgenden Ausflug in die menschlichen Abgründe, die uns Noé 1998 mit "Menschenfeind" liefert und ein Vorgriff auf die entrüstende Vergewaltigung, die Monica Bellucci unter Noé’s Regie in "Irreversible" widerfährt.
Der erste Beitrag zu einer perfekt gestalteten, in sich geschlossenen und bis in die kleinste Facette schlüssigen Trilogie.

Eine Rezension von Eduard Beitinger
(13. September 2008)
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Daten zum Film
Carne Frankreich 1991
(Carne)
Regie Gaspar Noé Drehbuch Gaspar Noé
Produktion Les Cinémas de la Zone Kamera Dominique Colin
Darsteller Philippe Nahon, Blandine Lenoir, Frankie Pain, Hélène Testud
Länge 40 min. FSK ab 18
Auf dem Cannes Filmfestival gewann "Carne" 1991 den Preis für den besten Kurzfilm.
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